Gabriel Toggenburg kennt sich aus mit Barrierefreiheit: beruflich als EU-Beamter, der sich seit über zwei Jahrzehnten dem Schutz der Menschenrechte widmet, persönlich als Bruder eines Rollstuhlfahrers – und als Vater von fünf Kindern, der selbst mit Buggys unterwegs war.
In Maria Himmelfahrt am Ritten, wo er viele Jahre seines Lebens verbracht hat, hat der Spross einer Südtiroler Adelsfamilie ein außergewöhnliches Projekt umgesetzt: Aus einem ensemblegeschützten Pferdestall wurden vier hochwertige Ferienwohnungen – stilvoll, nachhaltig und barrierefrei. Das Haus Himmelfahrt ist kein Kompromiss, sondern ein Modell.  

Wir sitzen hier im Garten vor einer typischen Rittner Sommerfrischvilla unter zwei Jahrhunderte alten Buchen, mit Blick auf die Privatkapelle des Hauses und auf das Rosengartenmassiv. Was hat dich dazu bewogen, aus diesem „himmlischen“ Flecken Erde einen Urlaubsort zu machen?

2023 ist meine Mutter Assunta gestorben. Sie war eine Individualistin mit künstlerischer Ader und großer Tierliebe. Entsprechend lebendig ging es hier rund um die Villa zu, in der wir als eine der wenigen Familien ganzjährig wohnten. Es gab Lamas, Hühner, Hunde, Katzen, Pfauen, Kaninchen und eben diesen Stall mit Mutters Pferden, der samt der fast 500 Jahre alten Villa unter Ensembleschutz steht und wo sich meine Mutter sogar häuslich eingerichtet hatte, um näher bei den Pferden zu sein. In den letzten Lebensjahren war sie, wie mein Bruder Michael, auf einen Rollstuhl angewiesen. Im Gespräch über die Zukunft des Anwesens haben wir gemeinsam die Idee entwickelt, hier einen Ort zu schaffen, an dem Menschen mit besonderen Ansprüchen und/oder Bedürfnissen Urlaub machen können. So sind diese vier Ferienwohnungen mit Seminarraum, Entspannungsterrasse und Wellnessbereich im neuen Nebengebäude entstanden. 

Es handelt sich um barrierefreie Wohnungen, die ihrer Bezeichnung mehr als gerecht werden. Auf der Webseite des Hauses Himmelfahrt sind 36 Maßnahmen zur Barrierefreiheit angeführt, von unterfahrbaren Elementen über Nullschwellen-Übergänge bis zur rollstuhlgerechten Sauna. Sogar voll ausgestattete Pflegebetten stehen zur Verfügung. Warum war dir das alles wichtig?

Ich habe mit meinem Bruder viele Situationen erlebt, in denen keine Barrierefreiheit vorhanden oder nur halbherzig umgesetzt war. Zudem beschäftige ich mich beruflich mit Menschenrechten – das Thema liegt mir also auch fachlich am Herzen. Aber mir war wichtig, dass nicht nur die Barrierefreiheit passt, sondern auch die ökologische und soziale Nachhaltigkeit – und der Umbau musste den Bestimmungen des Denkmalschutzes gerecht werden. Tradition, Nachhaltigkeit, Barrierefreiheit – das sind die drei Säulen unseres Hauses.

Drei große Themen also. Ließen sich die überhaupt vereinbaren?

Nicht zu hundert Prozent. Wir mussten Kompromisse machen. Zum Beispiel waren die rollstuhlgerechten Kühlschränke nicht in der besten Energieklasse erhältlich. Oder: Einige Fenster konnten wir wegen des Denkmalschutzes nicht so tief ansetzen, dass Rollstuhlfahrer gut hinausblicken können. Architekt Michele Stramandinoli hat gute Arbeit geleistet, um Ästhetik und Tradition mit praktischen Anforderungen zu kombinieren. 

Und mit der Nachhaltigkeit …

Immerhin hat sich das Gebäude von Klimahaus G zu C verbessert. Wir haben die Gasheizung ersetzt vor allem bei der Einrichtung alten Gegenständen ein zweites Leben geschenkt. Es ging uns auch um die soziale Nachhaltigkeit. So haben wir die Biomatratzen vom Sägemüllerhof gekauft, einem Sozialprojekt im Pustertal – um nur ein Beispiel zu nennen.

„Barrierefreiheit bedeutet, dass jeder Mensch – auch jemand mit einer persönlichen Einschränkung oder in einer Situation mit besonderen Anforderungen – alle Vorrichtungen und Einrichtungen selbstständig und ohne große Anstrengung nutzen kann."
Gabriel Toggenburg
Gastgeber im Haus Himmelfahrt

Barrierefrei setzen wir oft mit rollstuhlgerecht gleich. Dabei geht es nicht nur um Rollstühle. 

Nein, Barrierefreiheit bedeutet, dass jeder Mensch – auch jemand mit einer persönlichen Einschränkung oder in einer Situation mit besonderen Anforderungen – alle Vorrichtungen und Einrichtungen selbstständig und ohne große Anstrengung nutzen kann. Es geht also auch um die Oma mit Rollator, um die Mutter mit Kinderwagen, um das blinde Mädchen, den gehörlosen Jungen und um den verletzten Sportler. Jeder Fünfte in unserer Gesellschaft hat in diesem Sinne eine Notwendigkeit für Barrierefreiheit. 

Wie bist du bei der barrierefreien Gestaltung der Wohnbereiche vorgegangen? 

Obwohl ich schon einiges wusste, habe ich mich an eine Fachfrau gewandt – und viel gelernt. Die Nordtiroler Architektin Kornelia Grundmann sitzt selbst im Rollstuhl und ist Sachverständige für barrierefreies Bauen. Sie kennt die Stolperfallen, weiß aber auch, worauf man beim Bauen und Umgestalten verzichten und damit Geld sparen kann. 

Das klingt interessant.

Ja, sie hat mir zum Beispiel erklärt, dass ein elektrisch höhenverstellbares Waschbecken im Badezimmer weniger relevant ist als seitliche Haltegriffe, damit sich sitzende Personen selbst hochziehen können. Und das ist auch die günstigere Maßnahme. Oder: Einarmmischer sind für Menschen mit Bewegungseinschränkungen viel praktischer als Drehhähne. Und die Alarmschnüre in den Badezimmern von Gastbetrieben hängen meistens falsch. Es sind oft kleine Dinge mit großer Wirkung.

Und wie sieht es mit den Kosten aus?

Bei Neubauten sollte Barrierefreiheit selbstverständlich sein. Sie wird uns allen irgendwann einmal nützen. Wenn man Barrierefreiheit von Anfang an mitdenkt, wird es nicht wesentlich teurer als ein herkömmlicher Neubau. Schwieriger und merklich teurer wird es erst beim nachträglichen Umbau. Doch auch das ist möglich. 

Reicht es für einen Tourismusbetrieb, „ein bisschen barrierefrei“ zu sein?

Das hängt davon ab, wie praktikabel das Ganze ist. Für Rollstuhlfahrer gibt es eine Art Grundausstattung. Neben einem barrierefreien Zugang gehören dazu geringe Steigungen vor dem und im Gebäude, in den Badezimmern bedarf es einer Rangierzone, der schwellenlosen Dusche, der Haltestangen bei Toilette und eines unterfahrbaren Waschbeckens mit Halterungen. Kurzum: Das Badezimmer ist der Crashtest für die Barrierefreiheit. 

„Rollstuhlfahrer sind sehr sensibel, weil ein fehlendes Detail, das dem Gastgeber belanglos erscheint, für sie das Ende des Urlaubs bedeuten kann."
Gabriel Toggenburg
Gastgeber im Haus Himmelfahrt

Welche Fehler sollten Tourismustreibende in punkto Barrierefreiheit vermeiden?

Es gibt einen Kapitalfehler, den Menschen mit besonderen Bedürfnissen nicht verzeihen: wenn etwas beworben wird, das nicht dem Versprochenen entspricht. Da sind vor allem Rollstuhlfahrer sehr sensibel und fragen deshalb vor der Buchung auch meistens sehr beharrlich nach. 

Weil sie viele schlechte Erfahrungen machen?

Ja, aber vor allem, weil ein fehlendes Detail, das dem Gastgeber belanglos erscheint, für Betroffene das Ende des Urlaubs bedeuten kann. Die können nicht einfach das Hotel wechseln, wenn sie nicht in die Dusche kommen. Sie müssen heimfahren. Ich hatte mit meinem Bruder eine ganze Reihe von negativen Erlebnissen. 

Kannst du eins erzählen?

Wir brauchten in einem großen Schnellimbissladen auf dem Weg zur Toilette einen Treppenlift, mussten aber für dessen Nutzung das Personal verständigen. 20 Minuten später wurde mein Bruder vor gaffenden Passanten in den Lift gehievt. Das war schlichtweg zu spät. Und es hat nicht dem entsprochen, was wir im 1. Artikel der EU-Grundrechtecharta lesen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“.  

Du möchtest es im Haus Himmelfahrt anders machen, ihr seid mittlerweile in der zweiten Sommersaison. Wer sind eure Gäste?

Ungefähr 40 Prozent sind Menschen mit Einschränkungen und ihre Begleitpersonen, die anderen sind Familien, Radfahrer, Wanderer, Individualisten, die Ruhe und Das Besondere suchen. Barrierefreiheit bedeutet nicht, dass das Ästhetische und der kleine Luxus auf der Strecke bleiben müssen. 

Also ist es nicht nur ein Haus für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. 

Nein, das wäre absolut das falsche Signal. Dann wären wir ja eine segregierende Kurklinik. Wir wollen einfach, dass sich hier alle wohlfühlen, ob mit oder ohne Handicap.

Aber was nützt ein barrierefreies Haus, wenn die Umgebung nicht mitzieht?

Ein berechtigter Einwand. In Maria Himmelfahrt haben wir es zumindest geschafft, dass der Weg hinauf zur Kirche und zum nahen Gasthof nun barrierefrei ist. Und unser Bahnhof in Maria Himmelfahrt ist seit kurzem mit einem Lift ausgestattet. Aber ja – es gibt in dieser Hinsicht überall Nachholbedarf. Es bräuchte mehr barrierefreie Gastbetriebe, die sich entsprechend auch für andere Infrastrukturen stark machen.

„Barrierefreie Unterkünfte, Verkehrsmittel, Naturerlebnisse und dergleichen sprechen eine wachsende Klientel an. Das würde auch gut in die Bewerbungsschiene in Südtirol passen."
Gabriel Toggenburg
Gastgeber im Haus Himmelfahrt

Wie siehst du die Situation in Südtirol?

Ich finde, das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Barrierefreiheit ist hier grundsätzlich vorhanden. Schon die Tatsache, dass das Informationsportal „Südtirol für alle“ öffentlich unterstützt wird, zeugt davon. Aber das Thema gehört noch stärker in die Köpfe und Herzen. Da fällt mir auch ein persönliches Erlebnis ein: Als komplett Unerfahrener im Tourismus habe ich mich mit meiner Idee an eine Marketingexpertin gewandt. Sie meinte, ich solle es mit Barrierefreiheit nicht übertreiben, auch nicht in der Kommunikation nach außen, weil das andere Urlauber „abschrecken“ könnte. An diesem Gedanken erkennt man, welche Barrieren – im wahrsten Sinn des Wortes – in den Köpfen der Menschen beim Thema Barrierefreiheit noch vorhanden sind. Dabei könnte insbesondere der Tourismus mit inklusiven Angeboten profitieren. Barrierefreie Unterkünfte, Verkehrsmittel, Naturerlebnisse und dergleichen sprechen eine wachsende Klientel an. Damit könnte Südtirol auch werben. 

Inwiefern?

Wenn wir die aktuellen Diskussionen betrachten, dann geht es vor allem um das Umschichten der Gäste auf die Nebensaison und um die längere Aufenthaltsdauer. Das entspricht ganz dem Reiseverhalten von Personen mit Einschränkungen. Familien mit behinderten Mitgliedern oder bewegungseingeschränkten Großeltern oder Kleinkindern reisen eher antizyklisch, weil sie meistens nicht in den Schulferien reisen müssen. Sie bleiben in der Regel mindestens eine Woche oder sogar länger, weil es sich sonst wegen der ohnehin aufwändigen Planung nicht lohnt. Oft handelt es sich auch um eine größere Familie oder sogar zwei.

Wer müsste diesbezüglich aktiv werden? 

Vieles müsste Hand in Hand gehen. Die Verbände im Tourismus müssten ihre Mitglieder für das Thema sensibilisieren. Die Gemeinden müssten mit entsprechenden Infrastrukturen beitragen, die Politik mit Richtlinien. Barrierefreiheit darf außerdem in der Werbung nicht im Kleingedruckten stehen, sondern gehört mit auf die Startseite.

Autorin: Edith Runer

Nimm dir diese drei Learnings mit:

  • Früh planen spart Kosten: Integriere Barrierefreiheit so früh wie möglich – am besten Barrierefreiheit by design. Spätere Anpassungen sind deutlich teurer und oft technisch schwieriger umzusetzen.
  • Expertise lohnt sich: Hol dir fachliches Know-how, auch wenn externe Beratung etwas kostet. Du sparst langfristig, weil du unnötige Maßnahmen vermeidest und wirklich relevante Details integrierst.
  • Ehrlich währt am längsten: Im Gegensatz zur Nachhaltigkeit, wo gelegentlich Greenwashing durchgeht, sind Menschen mit Einschränkungen echte Experten in eigener Sache. Wer Barrierefreiheit nur oberflächlich verspricht und nicht einhält, verliert nicht nur Gäste, sondern auch Glaubwürdigkeit – mit weitreichenden Folgen.
Webinar „Barrierefreiheit im Tourismus“: Das sind die Insights!

Was ist deiner Meinung nach notwendig, damit barrierfreier Tourismus möglich ist? Teile deine Ideen in den Kommentaren!

Ähnliche Impulse
  • 14.05.2025
Sanft mobil in Pfelders
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 08.04.2025
Eine runde Sache
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 01.04.2025
Bio, regional, fair – geht das überhaupt?
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 26.03.2025
Nachhaltigkeit in der unternehmerischen DNA
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 17.03.2025
Mutig, kreativ, vegan
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 10.03.2025
„Nachhaltigkeit muss man leben“
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 24.02.2025
Ein Crashkurs im „Gästestupsen“: Was bringt Nudging?
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 19.02.2025
Kimchi aus dem Vinschgau
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 11.02.2025
Zug um Zug in Richtung Weihnachten
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 07.02.2025
Lebensraum für alle
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
Ähnliche Impulse
  • 14.05.2025
Sanft mobil in Pfelders
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 08.04.2025
Eine runde Sache
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 01.04.2025
Bio, regional, fair – geht das überhaupt?
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 26.03.2025
Nachhaltigkeit in der unternehmerischen DNA
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 17.03.2025
Mutig, kreativ, vegan
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 10.03.2025
„Nachhaltigkeit muss man leben“
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 24.02.2025
Ein Crashkurs im „Gästestupsen“: Was bringt Nudging?
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 19.02.2025
Kimchi aus dem Vinschgau
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 11.02.2025
Zug um Zug in Richtung Weihnachten
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen
  • 07.02.2025
Lebensraum für alle
  • Kommentar Kommentare
  • Gefällt mir Reaktionen